Gepräch mit Hamdi Hassan, Radiojournalistin

08.05.2023
"Was nützt denn das ganze Empowerment einer Frau, wenn sie einen Mann zu Hause sitzen hat, der nicht weiß, wovon wir reden? (…) Nur mit den Frauen zu reden, ist nicht genug, ich bin sogar davon überzeugt, dass ich die Frauen oft am besten stärken kann, indem ich mit den Männern rede."

TT: Du hast schon in Somalia als Journalistin gearbeitet. Welche Ausbildung hast du gemacht und in welchen Bereichen warst du tätig?

Hamdi: Ich habe Journalistik studiert. Von 2006-2014 habe ich als Journalistin bei verschiedenen Radiosendern in Somalia gearbeitet. Ich habe unterschiedliche Sendungen gemacht, zum Beispiel Nachrichtensendungen oder Sendungen über Gesundheit. Ich war auch in verschiedenen Regionen Somalias tätig und habe dort alle möglichen Themen behandelt.

TT: Welche Erfahrungen hast du als Frau in diesem Beruf gemacht?

Hamdi: Es war nicht einfach, in Somalia als Frau in diesem Beruf akzeptiert zu werden. Viele Männer sind immer noch der Meinung, dass Frauen lieber zu Hause bleiben sollten, deshalb musste ich für meinen Beruf kämpfen.

TT: Warst du auch Risiken ausgesetzt, wenn du über Themen gesprochen hast, die nicht allen gefallen?

Hamdi: Natürlich! Deswegen bin ich heute in Österreich. Ab 2006 ist die Situation immer gefährlicher geworden. 2008 habe ich in Äthiopien eine Ausbildung gemacht. Wenn du als Somalierin nach Äthiopien gehst, wirst du schnell als Agentin eingestuft, die für die Interessen unserer Gegner arbeitet. Wir waren zehn Journalisten und Journalistinnen dort, und Al Shabaab hat uns auf eine Todesliste gesetzt und unsere Fotos auf ihre Website gestellt. Das war das erste Mal, dass ich das Gefühl bekam, mein Leben könnte bald zu Ende sein.

Um mich in Sicherheit zu bringen, bin in die Region Gaalkacyo gegangen, wo ich geboren wurde. Dort habe ich zwei Jahre lang gearbeitet. Einmal habe ich abends mit einem Kollegen eine Unterhaltungssendung gemacht. Da haben die Terrormilizen eine Bombe in unsere Radiostation geworfen, mein Kollege wurde dabei verwundet. In dieser Zeit war mein Kind erst wenige Monate alt. Da habe ich begonnen, mich zu fragen, ob mein Beruf nicht zu gefährlich sei und ob ich ihn lieber aufgeben sollte. Nach einiger Überlegung habe ich mich dann aber entschieden: Nein, ich lasse mich nicht unterkriegen. Ich muss kämpfen.

Einige Zeit danach habe ich eine Stelle bei BBC Media Action bekommen. Das war für mich ein gutes Angebot, denn ich dachte, es würde besser sein, wenn ich nicht mit der somalischen Regierung oder mit lokalen Organisationen zusammenarbeiten muss. Gleichzeitig habe ich auch in Mogadischu bei Radio Ergo gearbeitet, das von der humanitären Organisation IMS gegründet worden ist. Aber leider wurde meine Hoffnung auf mehr Sicherheit nicht erfüllt.

Kurz darauf ist ein guter Freund durch ein Bombenattentat ums Leben gekommen. Wir hatten noch am Abend zuvor zusammen gegessen. Währenddessen haben Terroristen an seinem Auto eine Bombe angebracht. Er hatte ein komisches Gefühl und meinte: "Das Auto macht seltsame Geräusche, ich glaube, mit dem Motor stimmt etwas nicht. Ich kann dich nicht nach Hause bringen, nimm lieber ein Taxi." Also bin ich zusammen mit einem Kollegen mit einem Tuktuk nach Hause gefahren. Als der Freund am nächsten Morgen mit seinem Auto weggefahren ist, ist die Bombe explodiert.

TT: Dann war es ein Glück für dich, dass du nicht mitgefahren bist!

Hamdi: Ja, möglicherweise hätten sie die Bombe schon am Abend gezündet! Meistens planen die Terroristen ein Attentat jedoch so, dass die Bombe an einem Platz explodiert, wo viele Menschen sind, um möglichst viele zu erwischen.

TT: War das für dich der Grund, das Land zu verlassen?

Hamdi: Ja. Als das passiert ist, habe ich gesagt, es ist genug.

TT: Du lebst jetzt in Wien. Welche beruflichen Tätigkeiten übst du dort aus?

Hamdi: Ich habe eine Ausbildung zur Gesundheitsmentorin gemacht und organisiere Gesundheitskreise für geflüchtete Menschen, die aus Kriegsgebieten wie Somalia, Afghanistan und Syrien gekommen sind. Menschen, die Krieg, Verfolgung und Flucht erlebt haben, leiden oft an Stress, Depressionen und Schlafstörungen als Folge ihrer traumatischen Erlebnisse. Ich bin keine Therapeutin oder Psychologin, beim Mentoring geht es darum, diesen Menschen zu helfen, ein Trauma oder eine Depression zu erkennen, sie zu ermutigen, eine Therapie aufzusuchen und sie bei der Behandlung zu begleiten. Außerdem übersetze ich bei Therapiesitzungen im Verein Hemayat, einem Betreuungszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende, bin ich als Gesundheitsmentorin bei Afya – Verein für interkulturelle Gesundheitsförderung – und als Dolmetscherin bei der Diakonie tätig. Darüber hinaus biete ich Workshops für Menschen aus Somalia an, vor allem für Frauen.

TT: Bist du in Wien auch als Journalistin tätig?

Hamdi: Ja, ich arbeite bei Radio Orange. Am Anfang habe ich bei der Sendung "New Life in Vienna" mitgewirkt, eine Informationssendung in fünf Sprachen – Englisch, Deutsch, Arabisch, Somalia and Dari/Farsi –, die sich an Menschen wendet, die erst seit kurzem in Wien leben. Seit Sommer 2022 habe ich meine eigene Sendung "Ileys podcast" in somalischer Sprache. In dieser Sendung möchte ich mich darauf konzentrieren, was meine Community am dringendsten braucht. Durch meine Tätigkeit als Dolmetscherin bekomme ich sehr viel über die Probleme der Frauen mit, und ich bin auch mit vielen Organisationen vernetzt. Ich habe also die Informationen, deshalb habe ich eine Plattform gebraucht, damit ich etwas dazu sagen kann. Das war der Grund, warum ich mit meiner Sendung begonnen habe. Die Hauptthemen sind unter anderem die Stärkung von Alleinerzieherinnen, Schutz und Vorbeugung gegen Gewalt an Frauen und Kindern, mentale Gesundheit für Frauen, Integration, Gesundheit, Bildung… ich behandle in meiner Sendung viele unterschiedliche Themen.

TT: Wie wird deine Sendung angenommen? Bekommst du Feedback von deinen Hörern und Hörerinnen?

Hamdi: Ja, natürlich hören die Leute meine Sendung an. Wenn ich in einen somalischen Verein gehe, kommen immer mindestens zehn Leute, mit denen ich Interviews mache und die mir Tipps und Anregungen geben. Wir haben auch Facebook und WhatsApp-Gruppen, in denen über meine Sendungen diskutiert wird. Leute, die mich persönlich kennen, rufen mich nach einer Sendung an, um mir ihre Meinung kundzutun. Diese Rückmeldungen geben mir Kraft und Energie.

TT: Gibt es andere Vereine und Organisationen, mit denen du zusammenarbeitest?

Hamdi: Es gibt Personen, zum Beispiel Dr. Suad Mohamed, die mich unterstützen und mir mit Rat und Tat zur Seite stehen. Wenn ich eine Veranstaltung organisiere, kommen sie und zeigen mir damit ihre Unterstützung. Wir arbeiten nicht zusammen, wir arbeiten zusammen für unsere Community.

TT: Ein Schwerpunkt sind die Rechte von Frauen und Kindern. Mit welchen Problemen sind sie konfrontiert?

Hamdi: Viele somalische Frauen bekommen wichtige Informationen nicht. Ihre Männer sind meistens draußen unterwegs, während sie zu Hause bleiben. Sie kümmern sich nicht um die Erziehung der Kinder. Wenn es Probleme gibt, können sich die Frauen dann oft nicht wehren, weil sie nicht über ihre Rechte Bescheid wissen, weil sie die Sprache nicht beherrschen und weil sie die Institutionen nicht kennen, von denen sie Unterstützung erhalten können. Es gibt auch Gewalt gegen Frauen, es wurden sogar zwei Frauen getötet. Diese Frauen sind mir sehr nahegestanden. Eine von ihnen wurde von ihrem Mann ermordet, weil sie anderen Frauen geholfen hat.

TT: Wie versuchst du, die Frauen zu stärken?

Hamdi: Ich sage nicht einfach, du sollst dich integrieren, du musst einen Deutschkurs machen. Integration bedeutet für mich, die Familien stark zu machen. Viele somalische Männer glauben, es sei unter ihrer Würde, zuhause die Kinder zu versorgen, zu putzen und zu kochen. Also wende ich mich an die Männer und versuche ihnen klarzumachen, dass sie hier nicht weiterkommen werden, wenn sie ihr Verhalten nicht verändern. Integration bedeutet für mich nämlich auch, dass die Männer Verantwortung übernehmen und ihre Frauen unterstützen. Mit meiner Sendung versuche ich, Bewusstsein dafür zu schaffen. Ich rede nicht nur mit den Frauen. Was nützt denn das ganze Empowerment einer Frau, wenn sie einen Mann zu Hause sitzen hat, der nicht weiß, wovon wir reden? Ich gehe in die somalischen Vereine, ich spreche mit den Männern dort, ich frage sie: Warum sitzt du stundenlang hier und spielst Karten, wenn du zu Hause eine Frau und Kinder hast? Was ist deine Rolle in der Familie?

Nur mit den Frauen zu reden, ist nicht genug, ich bin sogar davon überzeugt, dass ich die Frauen oft am besten stärken kann, indem ich mit den Männern rede. Zum Beispiel wenn es um FGM geht. Die meisten Leute, die ich dazu interviewt habe, sind Männer. Die Mädchen werden für ihren zukünftigen Ehemann beschnitten. Der Eingriff wird zwar von Frauen ausgeführt, er wird aber für die Männer gemacht. Ich rede mit Community-Leadern, mit religiösen Führern, das sind alle Männer. Ich frage sie, würdest du eine unbeschnittene Frau heiraten? Und wenn sie mit ja oder nein antworten, frage ich sie nach der Begründung.

TT: Welche Antworten bekommst du von den Männern?

Hamdi: Die Antworten sind erstaunlich. Die jungen Männer sagen eigentlich alle, dass es besser und gesünder sei, wenn eine Frau nicht beschnitten ist. Viele ältere Männer sehen das aber nicht so, sie meinen, eine unbeschnitten Frau sei nicht sauber.

TT: Gibt es eine Chance, dass die somalischen Männer sagen, Schluss mit der Beschneidung?

Hamdi: Das ist mein Wunsch, aber das wird leider noch dauern, vielleicht zehn Jahre oder so. In Somalia gibt es leider noch zu wenige Männer, die sagen, FGM ist nicht gut, ich will eine unbeschnittene Frau heiraten. Aber hier in der Diaspora ist es anders. Sie lernen dazu.

TT: Sollten wir alle Männer nach Europa bringen?

Hamdi (lacht): Nein, wir sollten lieber alle nach Somalia zurückgehen und ihnen beibringen, die Rechte der Frauen zu respektieren! Ich denke, die Männer müssten viel mehr darüber reden und ihre Söhne aufklären, dass FGM eine schlechte Tradition ist, die dem körperlichen und psychischen Wohlergehen der Frauen und Mädchen schadet. Wenn die Männer anfangen würden, darüber zu reden, könnten wir diese Tradition schnell beenden.

TT: Du hast das Buch "Gabar noqo, ma eed baa"1) gelesen. Was sagst du über das Buch?

Hamdi: Es ist das erste Buch, das ich über FGM gelesen habe, das von einem Mann geschrieben wurde. Dass der Autor so klar und deutlich ausspricht, das FGM keine gute Tradition ist und abgeschafft gehört, hat mich umgehauen. Als ich das Buch in die Hand genommen und zu lesen begonnen habe, habe ich mich gefragt: Ist das wirklich wahr? Es ist nämlich leider eine Seltenheit, dass Männer über dieses Thema sprechen oder sogar schreiben. Ich wünschte, dass möglichst viele Exemplare dieses Buchs gedruckt und nach Somalia gebracht werden könnten.

TT: Bekommst du auf deine Arbeit auch negative Rückmeldungen und Kritik?

Hamdi: Ja natürlich, manchmal sagen sie zu mir: Du bist eine Feministin. Was du tust, ist gegen unsere Kultur. Aber das ignoriere ich.

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· "Ist es ein Verbrechen, ein Mädchen zu sein?" Das Buch des Autors Warsame Ahmed Amalle in somalischer Sprache wurde von Talktogether herausgegeben und ist über den Verein erhältlich.

Foto: Being here! Wien, 15.12.2022 © Marisel Bongola

veröffentlicht in Talktogether Nr. 83/2023