Die Botschaft der Flüchtlinge und die Antwort Europas
Sie stehen vor den Toren Europas und verlangen Einlass. Verzweifelte Menschen, manche mit Säuglingen und Kleinkindern auf dem Arm, die Hunderte Kilometer zu Fuß zurück gelegt haben, in unsicheren Schlauchbooten das Meer überquert haben, von Polizisten und Grenzsoldaten geschlagen und bedroht worden sind, unter freiem Himmel geschlafen und ihre letzten Ersparnisse an Schlepper, Grenzsoldaten und Taxifahrer bezahlt haben. Auch wenn sie von einer Grenze zur nächsten geschickt werden, werden sie sich nicht aufgeben, bevor sie ihr Ziel erreicht haben, denn es gibt für sie kein Zurück.
Ein großer Teil dieser Menschen, die alles zurückgelassen haben und sich auf den Weg in die Ungewissheit gemacht haben, ohne zu wissen, ob sie ihn überleben werden, kommt aus Syrien. Wie konnte es so weit kommen, dass dieses Land, das bei Weitem nicht zu den ärmsten Ländern des Nahen Ostens gezählt hat, vor den Augen der Welt in ein Trümmerfeld verwandelt worden ist, so dass die Menschen jegliche Hoffnung auf eine Zukunft verloren haben?
Das Assad-Regime hat in den letzten Jahrzehnten alles unternommen, um sein Land in den vom Westen dominierten Weltmarkt zu integrieren, vor allem auf Kosten der ländlichen Bevölkerung. Diese Reformen gehören neben der politischen Unterdrückung zu den Hauptgründen für die Unzufriedenheit, die die Massenproteste auslöste. Um einen Vorwand zu haben, die Proteste niederzuschlagen, holte Assad islamistische Extremisten ins Land oder ließ sie aus den Gefängnissen frei. Dass sich die friedlichen Proteste in einen der blutigsten Bürgerkriege unserer Zeit verwandelt haben, hat aber nicht nur mit der Brutalität des Regimes zu tun. Weil ihnen die guten Beziehungen des Assad-Regimes zu Russland ein Dorn im Auge war, haben die Vereinigten Staaten unter dem Deckmantel der Protestbewegung Geld, Waffen und Geheimagenten eingesetzt, um Rebellengruppen aufzubauen, die Assad stürzen sollten(1), und andere regionale Mächte wie die Türkei und Saudi-Arabien taten es ihnen gleich. So wurden Kräfte in Bewegung gesetzt, die nun nicht mehr zu kontrollieren sind.
Die katastrophalen Konsequenzen dieser Politik waren vorhersehbar. Und wie reagiert der Westen auf diese Situation? Indem er den Krieg weiter schürt, der all diese Probleme erst verursacht hat! Frankreich und das Vereinigte Königreich kündigten an, sich an den Bombardements in Syrien zu beteiligen, während die USA Schritte unternommen haben, eine Söldnerarmee in Syrien zu organisieren, die dort direkt für ihre Interessen kämpfen soll. Doch inzwischen wurde der Westen von Russland überholt. Russland bombardiert jedoch nicht nur Stellungen von ISIS, sondern auch die jener Gruppen, die mit den USA verbündet sind, was diese natürlich als Bedrohung ihrer eigenen Interessen ansehen. Somit entwickelt sich der Krieg immer mehr zu einer direkten Konfrontation zwischen den Großmächten. So stellt laut New York Times eine der größten Sorgen Washingtons der Ausbau der russischen Luftabwehrsysteme in Syrien dar, die zwar im Kampf gegen Terrormilizen keine Rolle spielen, aber gegen eine Nato-Angriff zum Einsatz kommen könnten.(2)
In Europa hat es keine Krise ausgelöst, als Tausende Flüchtlinge im Mittelmeer ertrunken sind, sondern erst als sie plötzlich vor den Grenzen standen und nach Mitteleuropa strömten. Nun streiten die europäischen Regierungen über die Aufteilung der Flüchtlinge. Einige osteuropäische Staaten, aber auch das Vereinigte Königreich wehren sich gegen die Zuteilung von Flüchtlingsquoten. Frankreichs Hollande hat sich lauthals zum Chor der Stimmen gesellt, die Großbritannien aufgrund seiner ablehnenden Haltung gegenüber Flüchtlingen kritisieren, lässt sich aber von der britischen Regierung dafür bezahlen, den Eurotunnel zu bewachen. Die deutsche Bundeskanzlerin Angela Merkel dagegen hat die Gelegenheit genützt, das Image Deutschlands in der Welt aufzupolieren, das seit der Griechenlandkrise beschädigt war.
Flüchtlinge als Reservearmee für die Wirtschaft?
"Danke, Mama Merkel!" lautet der Slogan vieler syrischer Flüchtlinge. Aber sind die Hintergründe für die großzügige Aufnahme von Flüchtlingen wirklich nur reine Menschlichkeit? Die Medien sprechen neuerdings viel davon, wie viele gut ausgebildete Fachkräfte sich unter den Schutzsuchenden - insbesondere jenen aus Syrien - befinden. Wirtschaftsforschungsinstitute rechnen vor, wie viele neue Arbeitskräfte Deutschlands Industrie braucht, um das Schrumpfen der Bevölkerung auszugleichen. Auch wenn die deutsche Wirtschaft wohl nicht vorgehabt hat, Arbeitskräfte aus Syrien anzuwerben, warum sollte sie nicht die Chance nützen, wenn sie schon vor der Türe stehen, wo doch die Kampagnen zur Anwerbung von Fachkräften nicht sonderlich erfolgreich waren? Die Flüchtlingsströme könnten eine Grundlage für das nächste deutsche Wirtschaftswunder werden, freut sich Daimler-Chef Dieter Zetsche(3), während in Deutschland manche bereits über ein Aussetzen des Mindestlohnes wegen der Flüchtlinge diskutieren.
Für einige Unternehmen sind die Flüchtlinge schon jetzt ein gutes Geschäft. So kämpfen gemeinnützige und gewinnorientierte Firmen um die lukrativen Aufträge etwa bei der Unterbringung und Verpflegung der Schutzsuchenden. Und obwohl im Gegensatz zu Deutschland die Arbeitslosenzahlen in Österreich steigen, ließ der Direktor des Österreichischen Instituts für Wirtschaftsforschung (WIFO) Aiginger verlauten, dass 30.000 Einwanderer in die österreichische Wirtschaft integrierbar seien, und dass die Zuwanderung für die alternden Gesellschaften Europas eine Chance darstelle. Um die Konjunktur anzukurbeln sei der aktuelle Zustrom laut Aiginger in Österreich aber noch zu klein. (4)
Alle diese Überlegungen orientieren sich aber nur darauf, inwiefern die Menschen für Europa Nutzen bringen könnten oder nicht, ignorieren aber, welche fatalen Auswirkungen der Exodus vor allem junger und gebildeter Menschen auf die Herkunftsländer der Flüchtlinge hat und haben wird. In der kurdischen Enklave Afrin etwa betrachten die Behörden die Auswanderung als ein so großes Problem, dass sie sich für ein Ausreiseverbot entschieden haben und eine Ausreise nur mehr in seltenen Fällen genehmigen. Weil es dort relativ sicher ist, fliehen zwar Menschen aus anderen Gebieten Syriens nach Afrin, andererseits verkaufen viele Einheimische ihre Häuser, um nach Europa zu gehen. Die Menschen fühlen sich wie in einem Käfig, erzählt die Journalistin Jenan Moussa, außerdem leide die Wirtschaft unter der Blockade. Nun aber fehle es an Arbeitskräften für den Aufbau der Produktion und die Selbstverwaltung der Region. (5)
Aufnehmen um abzuschieben?
Gleichzeitig wurde in Deutschland ein Gesetz beschlossen, das weit reichende Einschnitte im Aufenthalts-, Asyl- und Sozialrecht vornimmt. Demnach müssen Asylsuchende längere Zeit in den Erstaufnahmelagern bleiben und erhalten statt Geld vermehrt nur noch Sachleistungen. Abgewiesene Asylsuchende verlieren überhaupt den Anspruch auf Unterbringung und medizinische Versorgung und nur noch Asylwerber mit guter Bleibeperspektive erhalten Zugang zu Deutschkursen und Bildungsprogrammen.(6) Diese Regelung wird auch viele der Flüchtlinge treffen, die jetzt von der Bevölkerung auf den Bahnhöfen mit Hilfsgütern und Willkommensgesten empfangen wurden. In Österreich dagegen lässt die Innenministerin Mikl-Leitner mit dem Vorschlag aufhorchen, Asyl auf drei Jahre zu begrenzen. Welcher Flüchtling sollte mit einer solchen Perspektive noch die Motivation haben, die Sprache zu lernen und sich in die Gesellschaft zu integrieren?
Außerdem beobachten wir in der öffentlichen Debatte eine Trennung in Kriegsflüchtlinge aus Syrien auf der einen Seite, und so genannte Wirtschaftsflüchtlinge aus Südasien, Afrika und den Balkanländern auf der anderen. So hat Deutschland kurzerhand drei weitere Balkanländer - Albanien, Kosovo und Montenegro - zu "sicheren Herkunftsländern" erklärt, um Asylwerber von dort in kürzester Zeit wieder zurückschicken zu können. Wenn wir ein Assozierungsabkommen (bei dem es u. a. um die Liberalisierung des Handels mit Waren und Dienstleistungen und des Kapitalsverkehrs geht!) mit ihnen haben, meint Frau Merkel, können sie keine unsicheren Staaten sein. Dabei wird die Tatsache ignoriert, dass es sich bei den Flüchtlingen aus diesen Ländern zum Großteil um Angehörige der Roma-Minderheit handelt, denen aufgrund von Diskriminierung der Schulbesuch erschwert wird und die in ihren Herkunftsländern weder eine Perspektive auf Arbeit noch auf ein menschenwürdiges Leben haben. Nach den Plänen der deutschen Regierung sollen sie in spezielle Lager gebracht werden, um schneller abgeschoben werden zu können. Aber auch Verhandlungen mit der türkischen und einigen afrikanischen Regierungen über die Rücknahme von abgewiesenen Flüchtlingen sind bereits im Gange. Wird also die Aufnahme von Flüchtlingen in Deutschland bald von Massenabschiebungen begleitet sein?
Eine historische Situation - wohin führt sie uns?
Die Flüchtlinge bringen eine Botschaft nach West- und Nordeuropa mit, nämlich die, dass die Lebensumstände in vielen Teilen der Erde unerträglich geworden sind. Sie kommen mit der Hoffnung, sich hier einen Lebensunterhalt und eine Zukunft aufbauen zu können. Für wie viele sich dieser Traum erfüllt und für wie viele von ihnen er in der Warteschlange vor den Sozialämtern endet, ist jedoch ungewiss. Denn unser Wirtschaftssystem wird ja nicht danach organisiert, welche Bedürfnisse die Menschen haben und welche Leistungen erbracht werden müssen, um sie zu befriedigen, sondern wie viele und welche Art von Arbeitskräften von privaten oder öffentlichen Unternehmen gewinnbringend eingesetzt werden können.
Obwohl sie selber keine Lösungen anzubieten haben, profitieren rechtspopulistische und ausländerfeindliche Parteien von der Unfähigkeit der Regierungen, angemessen auf den Flüchtlingszustrom zu reagieren. Sie erzielen immer bessere Wahlerfolge, indem sie die Ängste in Teilen der Bevölkerung noch schüren, während offen faschistische Kräfte in Deutschland Brandanschläge auf Flüchtlingsunterkünfte verüben. Aber auch die meisten übrigen Parteien scheuen sich, zu freundlich zu den Flüchtlingen zu sein, weil sie Stimmenverluste fürchten. Damit legitimieren sie jedoch unmenschliche Vorgangsweisen gegen die Schutzsuchenden und spielen rechtspopulistischen Parteien wie der FPÖ letztlich in die Hände.
Auf der anderen Seite erleben wir eine unglaubliche Welle der Solidarität. In vielen Ländern gehen Tausende auf die Straße, um die Flüchtlinge willkommen zu heißen. Am 3. Oktober nahmen in Wien Zehntausende an einer Demonstration und über 100.000 Menschen an einem Solidaritätskonzert für die Refugees teil! Freiwillige sind seit Wochen im Dauereinsatz, bringen Lebensmittel zu den Bahnhöfen, holen die Flüchtlinge mit Privatautos und Taxis von den Grenzen ab, kümmern sich um ärztliche Versorgung und die Betreuung der Kinder und lösen dabei oft hochkomplexe Aufgaben. Krisen wie diese können das Schlechteste und das Beste im Menschen zu Tage befördern. Damit zeigen sie uns zwei gegensätzliche Wege auf, die unsere Gesellschaften in der Zukunft einschlagen könnten.
Quellen:
(1) A World to Win News Service: 07.09.2015
(2) New York Times: 19.09.2015
(3) www.rtdeutsch.com: 16.09.2015
(4) www.finanzen.at: 29.09.2015
(5) Der Spiegel: 10.09.2015
(6) Pro Asyl Deutschland: 25.09.2015
Bild: Flüchtlinge auf dem Salzburger Hauptbahnhof, Foto: Mohammad Sadeqi
erschienen in Talktogether Nr. 54/2015